Getrennt, verlassen – eine Illusion

Ausgangspunkt für das Stück war die Überlegung, dass der Mensch mit dem Paradies seine Geborgenheit verloren hat und seither zurücksucht. Das ist so schwer, dass er sie niemandem gönnt, der auch nur ein wenig davon sein Eigen nennt. Er nimmt den anderen dies Wenige mit Krieg, Gewalt, Technokratie. Damit das Leid erhalten bleibt. Denn der Mensch hält es ja für normal.

Die Großen nehmen es den Kleinen, die Starken den Schwachen und behaupten seit Jahrtausenden, es wäre zu ihrem Besten. Weil sie es selbst nicht anders kennen. So lebt der Mensch in diesem Mangel und sucht doch mit abgrundtiefer Sehnsucht nach dem, was er in sich ahnt und das Wesentliche nennt: Er sucht nach erfüllender Geborgenheit und kann sie nicht finden.

Geliebtsein vergessen

Dieses Mangelgefühl kommt daher, dass der Mensch sich getrennt von Gott wahrnimmt – und damit auch getrennt von anderen. Die Menschen haben vergessen, dass sie verbunden sind mit sich, mit Gott und mit allem, was ist. Sie haben vergessen, dass sie bedingungslos geliebt sind und geben dieses Wissen – besser: diese große Illusion – an die nächste Generation weiter.

Dank der Hirnforschung weiß man heute, dass alle Menschen ein angeborenes Gewissen haben. Allerdings lernen Babies vom ersten Tag an, wie es wegen dieses Mangelgefühls zugeht in den Systemen der Welt. Sie lernen, entsprechend zu handeln: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Um zu überleben, entwickelt jeder Mensch von klein auf seine ganz persönlichen Strategien.

Was dabei herauskommt, nannte der Reformator Martin Luther den in sich selbst verkrümmten Menschen, den homo incurvatus in se.

Gekrümmt im Spiegel

Betrachten wir dies im Zusammenhang mit den Spiegelneuronen, die die Neurobiologie entdeckt hat, kann man sich leicht vorstellen, was da seit Jahrtausenden auf Erden passiert. In sich selbst verkrümmte, tief verletzte Menschen spiegeln sich in anderen – und geben diese Verkrümmtheit an ihre Kinder weiter. Die Epigenetik erforscht das erst seit einigen Jahren.

Wegen dieses Durcheinanders gespiegelter Verkrümmungen sieht es heutzutage weltweit nicht wesentlich besser aus als vor 2000 Jahren. Oder vor 500 Jahren: Menschen fürchten sich vor allen möglichen Dingen, vor fremden Menschen, neuen Ideen, Katastrophen – vor apocalyptischen Zuständen. Sie rechnen immer mit dem Schlimmsten. Sie haben Angst und suchen doch nur: die Liebe.

Martin Luther hat erkannt, dass der Mensch von Gott bedingungslos geliebt ist. Und er hat „Jesus Christus als den Erlöser und Befreier des Menschen aus dessen Gottesentfremdung“ verstanden – so formuliert es Professor Reinhard Schwarz in seinem Buch „Martin Luther, Lehrer der christlichen Religion“.

Ja, wenn!

Ich vermute mal, dass Luther darum zu Lebzeiten mit der Apocalypse nicht viel anfangen konnte. Denn wenn die Menschen sich wieder mit Gott verbunden fühlten und entsprechend handeln würden – nämlich geliebt und darum auch liebend – wäre die Welt ein friedlicher Ort, wäre die Hütte Gottes bei den Menschen Realität.

Schade, dass die Menschen immer noch nicht verstanden haben, dass es so sein könnte – denkt sich Luther. Und kommt darum in APOCALUTHER rechtzeitig zum Reformationsjubiläum zurück auf die Erde. Er hat sich die Welt lange genug mit Abstand angesehen, eine neue Sicht auf die Offenbarung gefunden und die Nase voll: Die Apocalypse hat schon längst stattgefunden, das Paradies auf Erden ist möglich, aber die Menschen haben in der Hand, ob das gelingt. Denn Gott gab ihnen die Freiheit zu wählen, ob sie weiter im System der Angst oder in Liebe leben wollen.

Diese Erkenntnis will er nochmal unters Volk bringen – mit fünf neuen Thesen, die er damals – wie er selbst sagt – vergessen hat.

Wie es wirklich ist

Luther hört von Ferne Theodor und Theodizee bei einer Unterhaltung zu und merkt, dass die Zwei ganz seiner Meinung sind. Theodor und Theodizee, zufälligerweise Kinder eines evangelischen Pfarrers, haben aber nicht nur verstanden, wie es wirklich mit Gott und den Menschen ist. Sie haben auch die Apocalypse gelesen und sogar das Buch von Reinhard Schwarz über ihn, Luther. Das gefällt dem Reformator. Also steigt er bei den Kindern durchs Fenster. Natürlich nicht, ohne vorher anzuklopfen.

Zusammen mit Theodor und Theodizee, ihren Freunden und – Luther weiß ja mit modernen Medien umzugehen – mit den Handies der Kinder verbreitet Luther fünf neue Thesen über die Heilkraft der bedingungslosen Liebe Gottes in der Welt.

Diese neuen Thesen, bringen ihn sofort in Konflikt mit den Herrschenden. Luther wird verhaftet und kommt vors Hohe Tribunal der Mächtigen der Welt aller Zeiten, die dafür sorgen wollen, dass alles „in der bestehenden Ordnung bleibt“.

Seelisch in Balance

Ein heiler Mensch stört natürlich Ihr System, ruft Luther diesem Tribunal entgegen. Denn wer zurückfindet in die bedingungslose Liebe Gottes, wer sich mit dieser Liebe, diesem Licht auffüllt, heilt von innen heraus, Sehnsucht und Bedürftigkeit nach Zuwendung und Bestätigung sind gestillt. So ein Mensch hat keine Angst, Liebe zu verlieren oder fremde Menschen im Land zu haben. Ein solcher Mensch wird unabhängig von menschlicher Macht, bleibt bei sich seelisch stabil in Balance, kann auf Herz und Kopf gleichermaßen hören, danach handeln und darum seinen Nächsten lieben wie sich selbst. So kommt Frieden in die Welt.

Moment mal – ist das Stoff für Kinderchor? Ja. Denn Luther hatte, wie bereits erwähnt, erkannt, dass jeder Mensch mit dem Wissen über das bedingungslose Geliebtsein in die Welt kommt, nämlich einem angeborenen Gewissen: Wenn du ein Kind siehst, hast du Gott auf frischer Tat ertappt, nannte er das. Außerdem wusste er: Sollen wir Kinder ziehen, so müssen wir auch Kinder mit ihnen werden.

Die Großen machen es vor

Aber: APOCALUTHER ist kein Stück, das sich nur Kinder ansehen sollten. Im Gegenteil. Im Publikum sollten vor allem Erwachsene sitzen. Denn die Großen machen vor, wie es hier zugeht auf der Welt. Sie entscheiden, ob sie im System der Angst oder der Liebe leben wollen – und geben das den Kindern weiter.

„Sieh die Kinder an. Sie kommen mit offenen Armen voll bedingungsloser Liebe auf die Welt. Wie wird aus so einem Kind ein Mensch, der andere Menschen tötet?“, fragt Luther im Gespräch mit Theodizee, Theodor und ihren Freunden. Diese Frage beschäftigt mich, seit ich als sehr kleines Kind in einem Buch Bilder aus der Zeit der vergangenen Weltkriege sah. Heute bin ich Mutter von fünf Kindern, die doch eben erst klein waren und bald schon groß sind.

Und ich finde, es wird Zeit, dass der in sich verkrümmte Mensch an die Heilung seiner tiefsten Verletzungen geht. Das sind übrigens genau die, von denen die Psychologie behauptet, sie wären NICHT heilbar. Der Weg der Heilung ist aber der: Zu erkennen, dass man NIE verlassen, sondern durch bedingungslose Liebe zu sich selbst und damit auch zu anderen vollständig heil und gesund werden kann.

Bedingungslose Liebe bringt das, was den Menschen innerlich fehlt, zurück.

Ebenbildlichkeit wieder leben

Reinhard Schwarz formuliert es so – und Theodor bringt das in APOCALUTHER in eigene Worte: Gott hat Jesus Christus auf die Welt geschickt, der den Menschen wieder so heil macht, wie das mal gemeint war, als „Ebenbildlichkeit Gottes in Liebe, Gnade und Weisheit“. Das meint zum Beispiel: Man soll sein Licht nicht unter einen Scheffel stellen. Oder wie man heute sagt: unter einen Eimer. Das bedeutet aber auch: Man soll anderen keinen Eimer überstülpen. Liebe deinen nächsten wie dich selbst.

Wer im Krieg ist mit sich selbst, wird auch Krieg mit der Welt führen, sagt Luther in APOCALUTHER vorm Hohen Tribunal. Genau so wird derjenige, der im Frieden ist mit sich selbst, Frieden in die Welt bringen. Luther wollte keine neue Kirche oder Konfession gründen. Er wollte den Menschen einfach sagen, was er erkannt hatte. Um APOCALUTHER zu schreiben und auf die Bühne zu bringen, kam mir das Reformationsjubiläum wie gerufen.

Quintessenz reformatorischer Lehre

Luther sagt in Apocaluther: Gott macht den Frieden nicht. Gott IST Frieden. Die MENSCHEN müssen sich wieder mit Gott verbunden wissen und fühlen und danach handeln. Dann IST Frieden! Auch zwischen Menschen, die unterschiedlicher Konfession oder einfach anderer Meinung sind. Und das ist ja nun wirklich nicht nur die Quintessenz reformatorischer Lehre. Das ist seltsamerweise die goldene Regel aller Weltreligionen.

30. September 2016